Joseph von Eichendorffs Gedicht „Nachts“

JOSEPH VON EICHENDORFF

Nachts

Ich wandre durch die stille Nacht,
Da schleicht der Mond so heimlich sacht
Oft aus der dunklen Wolkenhülle,
Und hin und her im Tal
Erwacht die Nachtigall,
Dann wieder alles grau und stille.

O wunderbarer Nachtgesang:
Von fern im Land der Ströme Gang,
Leis Schauern in den dunklen Bäumen –
Wirrst die Gedanken mir,
Mein irres Singen hier
Ist wie ein Rufen nur aus Träumen.

1826

 

Konnotation

Joseph von Eichendorff (1788–1857), der wohl berühmteste Repräsentant der deutschen Romantik, war ein Dichter des Heimwehs. Seine lyrischen Sänger und Wanderer streben nach Verschmelzung mit den Zeichen und Phänomenen einer rätselvollen Natur.
Eichendorffs lyrisches Ich, so schreibt der Philosoph Theodor Adorno über ihn, weiß nie, wo es sich befindet, „weil das Ich sich vergeudet an das, wovon es flüstert“. So auch in dem um 1826 entstandenen Gedicht über eine nächtliche Landschaft, in dem sich ein Wechsel von schöner Stille zu wundersamem Klangzauber vollzieht. Da alles um ihn herum tönt, ist der Singende seiner eigenen Gegenwart unsicher, glaubt sich „verwirrt“ in Gedanken. Die Seelenbewegung des Subjekts spiegelt sich in dem faszinierenden „Nachtgesang“ der Naturmächte. Die Auflösung des Ich, seine Hingabe an den Schauer der Naturempfindung steht ganz im Dienste der Sprache, die hier ihre magischen Kräfte entfesselt.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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