Joseph von Eichendorffs Gedicht „Winterlied“

JOSEPH VON EICHENDORFF

Winterlied

Mir träumt’, ich ruhte wieder
Vor meines Vaters Haus
Und schaute fröhlich nieder
Ins alte Tal hinaus,
Die Luft mit lindem Spielen
Ging durch das Frühlingslaub,
Und Blütenflocken fielen
Mir über Brust und Haupt.

Als ich erwacht, da schimmert
Der Mond vom Waldesrand,
Im falben Scheine flimmert
Um mich ein fremdes Land,
Und wie ich ringsher sehe:
Die Flocken waren Eis,
Die Gegend war vom Schnee,
Mein Haar vom Alter weiß.

vor 1834

 

Konnotation

Der Traum des Dichters gilt der Frühlings-Seligkeit der Jugend – die schnöde Realität dagegen zeigt sich als winterlich erstarrte Natur, die auf Heimatverlust und die Erfahrung der Vergänglichkeit zurückverweist. Mit dem ihm eigenen Sensorium für motivische Oppositionen und einander widerstrebende Kräfte spielt der Romantiker Joseph von Eichendorff (1788–1857) in diesem vor 1834 entstandenen Gedicht die Gegensätze durch: Frühling- Winter, Heimat-Fremde, Traum-Wachzustand. Die glückliche Introversion im Frühlingslaub kollidiert mit den Schrecken des Eises.
Man hat Eichendorff als „Dichter des Heimwehs“ (Theodor Adorno) beschrieben. Die romantische Verklärung der Jugend und ihrer Fröhlichkeit wird hier in der zweiten Strophe mit Metaphern der Vereisung ernüchtert. Das elterliche Anwesen in Schlesien, das die poetische Imagination des Dichters evoziert, ist für immer versunken, nur eine Traumgestalt. In seiner jetzigen Lebenswelt ist der Poet nur noch ein Irrläufer in der Fremde.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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