JÜRGEN RENNERT
Mein Land ist mir zerfallen
Mein Land ist mir zerfallen.
Sein’ Macht ist abgetan.
Ich hebe, gegen allen Verstand,
zu klagen an.
Mein Land ist mir gewesen,
Was ich trotz seiner bin:
Ein welterfahrnes Wesen,
Mit einem Spalt darin.
Mein Land hat mich verzogen,
Und gehe doch nicht krumm.
Und hat mich was belogen,
Und bin doch gar nicht dumm.
Mein Land hat mich mit Wider-
Willn an die Brust gepreßt.
Und kam am Ende nieder
Mit mir, der es nicht läßt.
Mein Land trägt meine Züge,
Die Züge tragen mich.
Ich bin die große Lüge
Des Landes. (Wir meint: ich.)
1990
aus: Jürgen Rennert: Verlorene Züge. Gedichte 1985–1997. Lyrikedition 2000, München 2000
Gegen die offiziellen Sprachregelungen des real existierenden Sozialismus hatte der Ost-Berliner Lyriker Jürgen Rennert (geb. 1943) schon früh das Motto einer ökologisch-kritischen Naturlyrik formuliert: „Es stirbt das Land an seinen Zwecken.“ In den Tagen des politischen Umbruchs 1989/90 schrieb er dann ein Requiem auf das Land, mit dem er sich nur in widerwilliger, gespaltener Liebe identifizieren konnte. In diesem Gedicht stößt man wie in vielen lyrischen Texten der späten DDR auf die patriotisch wirkende Fügung „Mein Land“. Bei allen Ambivalenzen bezeugt das besitzanzeigende Fürwort in „Mein Land“ zumindest eine partielle Verbundenheit mit der politisch kollabierten DDR.
Das Gedicht ist am 14. Januar 1990 entstanden, als sich bereits abzeichnete, dass die DDR den Beitritt zur Bundesrepublik vollziehen würde. Bei aller Erleichterung über das Ende einer fragwürdigen Staatsmacht, die ihre Untertanen zur Anpassung und zur Lüge zwingt, enthält der Text doch auch die Klage über den Untergang dieses Gemeinwesens, dessen Charakter-„Züge“ mit den in ihm lebenden Individuen verwachsen sind.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008
Hat das Gedicht eine feste Gedichtsform oder ist es eher ein “freies” Gedicht .
Mfg. Diego