JÜRGEN THEOBALDY
Abenteuer mit Dichtung
Als ich Goethe ermunterte einzusteigen
war er sofort dabei
Während wir fuhren
wollte er alles ganz genau wissen
ich ließ ihn mal Gas geben
und er brüllte: „Ins Freie!“
und trommelte auf das Armaturenbrett
Ich drehte das Radio voll auf
er langte vorn herum
brach den Scheibenwischer ab
und dann rasten wir durch das Dorf
über den Steg und in den Acker
wo wir uns lachend und schreiend
aus der Karre wälzten
1972/73
aus: Jürgen Theobaldy: Blaue Flecken, Rowohlt Verlag, Reinbek 1974
Jürgen Theobaldy, 1944 in Straßburg geboren und im politisch bewegten Berlin nach 1970 zum Herold einer Dichtung der „Neuen Subjektivität“ aufgestiegen, hat in seinen frühen Jahren das Gedicht „ins Handgemenge“ führen wollen, hinein in die turbulenten Kämpfe dieser Zeit.
Als Repräsentant einer politisch motivierten, aber im Privaten verankerten Alltagslyrik hat er eine hitzige Poesie-Debatte provoziert.
Im Eröffnungsgedicht seines Gedichtbandes Blaue Flecken (1974) animiert der junge Wilde Theobaldy den nur scheinbar toten Klassiker Goethe zu einer halsbrecherischen Auto-Tour, die nach etlichen groben Manövern im Graben endet. Der Wortführer der „Neuen Subjektivität“ praktizierte damals nicht nur die Abweichung von der Straßenverkehrsordnung, sondern auch von den Regeln der traditionellen Poetik. Mittlerweile hat er für den „Glanz des einfachen, direkten Ausdrucks“ differenziertere Mittel gefunden: die Odenstrophe oder die zarte Notation gemäß dem Vorbild des mittelalterlichen Mystikers Matsuo Basho.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006
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