Jutta Richters Gedicht „Weihnachten“

JUTTA RICHTER

Weihnachten

Was würdest Du machen, wenn Weihnachten wär’
und kein Engel würde singen.
Es gäbe auch keine Geschenke mehr,
kein „Süsser-die-Glocken-nie-klingen“.
Im Fernsehen hätte der Nachrichtensprecher
Weihnachten glatt vergessen.
Und niemand auf der ganzen Welt
würde Nürnberger Lebkuchen essen.
Die Nacht wäre kalt.
Dicke Schneeflocken fielen,
als hätt’ sie der Himmel verloren.
Und irgendwo in Afghanistan
würde ein Kind geboren.
In einem Stall stell es Dir vor.
Die Eltern haben kein Haus.
Was glaubst Du, wie ginge wohl dieses Mal
eine solche Geschichte aus?

um 2000

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Konnotation

Das lyrische Denkspiel der Kinderbuchautorin und Dichterin Jutta Richter (geb. 1955) spielt einen irritierenden Moment lang die Möglichkeit durch, dass das tröstliche, Gemeinschaft stiftende Fest von Christi Geburt verschwinden könnte. Und blitzartig wird erhellt, dass dieses christliche Ritual nur im westlichen Kulturkreis nachhaltige Wirkung erzielt. Wie aber, so erlaubt sich das Gedicht die ketzerische Frage, wenn der potentielle Erlöser der Welt heute im islamischen Kulturkreis zur Welt käme?
Durch diese Phantasie über den totalen Verlust des von einer Heilsbotschaft umwehten Weihnachtsfests gerät das kulturelle Fundament des sogenannten „abendländischen Kulturkreises“ ins Wanken. Denn die frohe Botschaft der Ankunft eines Erlösers ist dahin. Dagegen steht die dringliche Frage in Jutta Richters Gedicht die den Schauplatz der Weihnachtslegende in eine Region verlegt, in der seit Jahrzehnten ein erbitterter Krieg um politische Hegemonie ausgetragen wird. Eine kleine Drehung an unseren kulturellen Ur-Texten genügt – und schon steht unsere ganze Identität auf dem Prüfstand.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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