KARIN KIWUS
So oder so
Schön
geduldig
miteinander
langsam alt
und verrückt werden
andrerseits
allein
geht es natürlich
viel schneller
1977/78
aus: Karin Kiwus: Angenommen später, Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1979
Die Phantasie vom „Gemeinsam-alt-werden“ gehört zu den hoffnungsträchtigsten Utopien moderner Liebespaare. Was in den moralisch streng regulierten Epochen der Vergangenheit von Sittlichkeits-Konventionen oder der religiösen Ordnung vorgeschrieben war, ist in unserer Ära der gelockerten Bindungen und der erotischen Permissivität zur Wunschphantasie geworden. Die 1942 geborene Dichterin Karin Kiwus, die in der Ära der „Neuen Subjektivität“ besonders erfolgreich war, widmet dieser Phantasie eine sarkastische Miniatur.
Das gemeinsame Altern erscheint in diesem um 1977/78 entstandenen Gedicht als prekärer Zustand – denn der Alterungsprozess schließt auch einen geistigen Zerfall, zumindest eine gewisse „Verrücktheit“ mit ein. Aber der Vorteil der Liebespaare gegenüber den Einsamen und Isolierten scheint hier abzuschmelzen. Denn der Zerfallsprozess verläuft bei letzteren in einer gewissen Beschleunigung und zieht sich wenigstens nicht über viele Jahre hin.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007
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