KARL KRAUS
Mein Widerspruch
Wo Leben sie der Lüge unterjochten,
war ich Revolutionär.
Wo gegen Natur sie auf Normen pochten,
war ich Revolutionär.
Mit lebendig Leidendem hab ich gelitten.
Wo Freiheit sie für die Phrase nutzten,
war ich Reaktionär.
Wo Kunst sie mit ihrem Können beschmutzten,
war ich Reaktionär.
Und bin bis zum Ursprung zurückgeschritten.
nach 1925
Es gehörte zu den Lieblingsbeschäftigungen des leidenschaftlichen Sprachkritikers und Dichters Karl Kraus (1874–1936), seine Gegner durch intellektuelle Unberechenbarkeit und kühne argumentative Volten zu verwirren. Was er über den von ihm verehrten Dramatiker Johann Nestroy (1801–1862) gesagt hat, gilt auch für Kraus selbst: Nestroy habe „die zeitgenössischen Flachköpfe immer vor das Problem gestellt, ob er mehr ,Reaktionär‘ oder ,Revolutionär‘ sei – anstatt dass sie den Bau seiner Sätze besichtigt hätten…“
Gedichte hat Kraus als „engste und strengste Sprachprobe“ begriffen, die vor allem auf dem Reim basiert, in dessen Wohlklang sich nach Ansicht von Kraus die erotische Natur der Sprache offenbart. In einem seiner berühmtesten Gedichte, in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre entstanden, bekennt sich Kraus zu einer janusköpfigen Haltung: als Gesellschaftskritiker bleibt er „Revolutionär“, als Sprachkritiker jedoch „Reaktionär“, der von einer Wiederherstellung eines paradiesischen „Ursprungs“ träumt.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008
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