KARL KROLOW
Der die Minuten zählt
Der die Minuten zählt,
der sich um nichts quält:
sieh ihn dir an.
Dem es an allem fehlt,
dessen Gehirn sich schält,
der nichts mehr kann,
sich mit dem Zorn vermählt
und der sein Ende wählt:
der ist dein Mann.
1993/1994
aus: Karl Krolow: Die zweite Zeit. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1995
Was ist das für ein eigentümliches Wesen, das hier der Dichter Karl Krolow (1915–1999) porträtiert? Ist dieser „Mann“ ein schicksalhaft Verbündeter; ein Seelenverwandter des Autors? Handelt es sich gar um ein Selbstporträt des Dichters? Es ist jedenfalls eine Gestalt des Mangels: Ein unaufhebbares existenzielles Defizit und das Wissen um die eigene Vergänglichkeit paaren sich mit grimmigem Stoizismus und der Lust an der Selbstauslöschung.
Das Gedicht entstammt dem Spätwerk Karl Krolows, in dem der Autor mit großer Kunstfertigkeit sämtliche Reim-Techniken durchexerziert hat. Und es gibt durchaus Indizien, die nahelegen, dass der Autor hier eine Kunstfigur als wenig schmeichelhaftes Alter Ego erschaffen hat. Denn jenseits des Bewusstseins des eigenen Zerfalls ist dem porträtierten Subjekt des Gedichts nur eine Bereitschaft zu einer gewissen (poetischen) Renitenz geblieben.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009
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