Karl Krolows Gedicht „Diese alten Männer“

KARL KROLOW

Diese alten Männer

Diese alten Männer, die niemand
mehr ansieht, Hausierer mit Phantasie,
reale Nullen, bei Abschaffung ihres Lebens,
unter Bäumen im Park wartend
auf nichts anderes als auf Vergangenheit –
eine Landkarte aus Staub.
Versteckte Sätze leben in ihnen weiter
im trockenen Mund.
Einige haben ein schönes Gesicht
für Augenblicke. Beinahe körperlos,
sagt man. Wer weiß etwas
von diesen schmalen Figuren,
die sich entfernen?

nach 1975

aus: Karl Krolow: Der Einfachheit halber, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1977

 

Konnotation

Mitte der 1970er Jahre geschrieben, antizipiert dieses Gedicht über alte Männer ein demografisches Phänomen der Gegenwart des 21. Jahrhunderts. Den Alten, dem dominanten soziologischen Milieu der Zukunft, wird ein Gruppenbild gewidmet. Eine Spezies, die funktionslos geworden zu sein scheint, sieht sich bei ihrem eigenen Verschwinden zu.
Der Dichter Karl Krolow (1915–1999) wirbt um Verständnis für jene Einzelgänger, die in privat-lebensweltlicher wie auch metaphysischer Hinsicht obdachlos geworden sind. Am Ende wird den Wartenden im Park, die zunächst als hoffnungslos anachronistische Fälle beschrieben wurden, doch noch eine Art Grazie zugeschrieben. Die „schmalen Figuren, / die sich entfernen“, erhalten im Medium des Gedichts ihre Würde zurück.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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