Karl Wolfskehls Gedicht „Auf Erdballs letztem Inselriff…“

KARL WOLFSKEHL

Auf Erdballs letztem Inselriff
Begreif ich was ich nie begriff.
Ich sehe und ich überseh
Des Lebens wechselvolle See.
Ob mich auch Frohsinn lange mied,
Einschläft das Weh, das Leid wird Lied.
Bin ich noch ich? Ich traue kaum
Dem Spiegel, alles wird mir Traum.
Traumlächeln lindert meinen Gram,
Traumträne von der Wimper kam,
Traumspeise wird mir aufgetischt,
Traumwandernden Traum-Grün erfrischt,
Hab auf Traumheilen einzig Acht.
So ward der Tag ganz Traumesnacht,
Und wer mir Liebeszeichen gibt
Der fühle sich, wisse sich traumgeliebt!

nach 1938

aus: Karl Wolfskehl: Sang aus dem Exil. Lambert Schneider Verlag, Heidelberg 1951

 

Konnotation

Mein Ruhm endet im Hafen von Auckland / aber er beginnt auch im Hafen von Auckland“. Auf der letzten Station seines Exils war der Dichter Karl Wolfskehl (1869–1948) in Neuseeland gelandet, tief verletzt durch die Zerstörung der jüdisch-deutschen Symbiose in Deutschland, in die er zeitlebens so viele Hoffnungen gesetzt hatte. Schon bevor er 1938 zu des „Erdballs letztem Inselriff“ kam, hatte der jüdische Dichter und treue Weggefährte von Stefan George (1868–1933) sein Exil-Schicksal in mythischen Gestalten wie Odysseus und Hiob gespiegelt.
Für den Dichter im Exil hat sich das Dasein ganz in Erinnerung und „Traumesnacht“ aufgelöst. Der „Spätest-Romantiker“, als der sich Wolfskehl sah, hatte geglaubt, in ein „Land der schweigenden Urwälder, immergrün und farnig gelegentlich durchpalmt, voll fremdester Vögel“ zu kommen, musste bei seinem „Inselriff“ aber erkennen, dass es dem Exerzierplatz seiner Heimatstadt Darmstadt ähnlicher sah als seinem Märchentraum.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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