KAROLINE VON GÜNDERRODE
Vorzeit, und neue Zeit
Ein schmaler rauher Pfad schien sonst die Erde.
Und auf den Bergen glänzt der Himmel über ihr,
Ein Abgrund ihr zur Seite war die Hölle,
Und Pfade führten in den Himmel und zur Hölle.
Doch alles ist ganz anders nun geworden,
Der Himmel ist gestürzt, der Abgrund ausgefüllt,
Und mit Vernunft bedeckt, und sehr bequem zum Gehen.
Des Glaubens Höhen sind nun demolieret.
Und auf der flachen Erde schreitet der Verstand,
Und misset alles aus, nach Klafter und nach Schuhen.
um 1800
Sie ist zum Inbegriff einer unglücklich liebenden Romantikerin geworden: Karoline von Günderrode (1780–1806), die junge Frau aus verarmtem Adel, stürzte sich in zwei verhängnisvolle Affären mit berühmten Gelehrten, die „das Günderrödchen“ – so wurde sie von ihren Freundinnen gerufen – schmählich verstießen. Auf das emotionale Ränkespiel des Altertumsforschers Friedrich Creuzer reagierte sie schließlich mit ihrem Suizid, im Alter von gerade mal 26 Jahren.
Dass die Günderrode nicht nur eine Dichterin der Liebe als Passion war, sondern auch in die philosophischen Debatten der Romantiker um eine „neue Mythologie“ zu intervenieren vermochte, zeigt das Gedicht aus ihrem Nachlass. Hier wird die Crux der Aufklärung beschrieben: der von den Heilsversprechen der Religion entleerte Himmel und das Umschlagen der Vernunft in einen dürren Rationalismus und Positivismus. Eine bloß funktionalistische Vernunft bekümmert sich nur noch ums statistische Vermessen der Welt.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007
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