KLABUND
Meier
Ein junger Mann mit Namen Meier
Lief täglich vor ihr auf und ab.
Er gab ihr fünfundzwanzig Dreier,
Daß sie ihm ihre Liebe gab.
Sie zählte sehr besorgt die Pfennige
Und legte sie in einen Schrank.
Allein es schienen ihr zu wenige,
Sie wünschte etwas Silber mang.
Er dachte an die Ladenkasse.
Und eines Tages ward bekannt,
Daß Rosa sich betreffs befasse,
Doch Meier sich in Haft befand.
So geht es in der Welt zuweilen:
Der erste muß die Klinke ziehn –
Der zweite soll sich nur beeilen,
Das Fräulein wartet schon auf ihn.
1927
Als „Chansons erster Güte“ hat Kurt Tucholsky (1890–1935) die Gedichte seines produktiven Zeitgenossen, des „Harfenjulius Klabund“, bejubelt. Dabei hat die Lässigkeit und Frivolität dieser nicht sehr tugendhaften Gedichte so manchen Leser verstört. Im Band Die Harfenjule (1927) hat Klabund, der als Alfred Henschke in Crossen an der Oder geboren wurde, einer damals bekannten Berliner Straßenmusikantin ein literarisches Denkmal gesetzt.
In Klabunds Großstadtgedicht werden die Schattenseiten der bürgerlichen Existenz ins Zentrum gerückt: Prostitution, Hörigkeit, Kriminalität – und die Tragik unerfüllter Liebe. Die heftige Leidenschaft, die hier ein Jedermann wie der junge Herr Meier seiner Geliebten widmet, kollidiert mit der nüchternen Realität. Die Liebe unterliegt der Käuflichkeit – und sie verleitet den begehrenden Mann zum Gesetzesbruch. Klabunds Realismus verabschiedet die Illusionen des romantischen Liebesideals.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010
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