Kuno Raebers Gedicht „Warten“

KUNO RAEBER

Warten

Kannst du nicht warten, bis das
Grab über dir einstürzt,
was klopfst du, was schreist du?
Kannst du nicht warten, bis dir
der Ball hart gegen die Brust stößt,
was klopfst du, was schreist du?
Kannst du nicht warten, bis dir
das Kind mit dem schmutzigen Finger
erstaunt übers Kinn streicht,
was klopfst du, was schreist du?
Kannst du nicht warten aufs feuchte
Frühjahr, auf Kinder, auf Spiele, die dich zufällig
befreien, was klopfst du, was schreist du?
Kannst du nicht warten?

1963

aus: Kuno Raeber: Werke in fünf Bänden. Bd. 1: Lyrik. Hrsg. von Christian Wyrwa und Matthias Klein. Nagel & Kimche, München 2002

 

Konnotation

Seine Entscheidung für die Dichtkunst als Lebensform war radikal. Nach einer theologischen Karriere in Basel und Zürich und einem Noviziat beim Jesuitenorden hatte der Schweizer Autor Kuno Raeber (1922–1992) nicht nur alle Brücken zu seiner katholischen Vergangenheit abgebrochen, sondern sich auch von seiner Familie getrennt, um sich ausschließlich der Poesie widmen zu können. Raebers Romanhelden sind unglückliche, von ihrer Frömmigkeit gefesselte Heilige, die sich nur in Wahnzuständen, durch Selbstgeißelungen oder Folterungen erlösen können. Dieses Selbstquälerische steckt auch in den mythischen Maskenspielen seiner Gedichte.
„Gedichte“, so schrieb Raeber im Vorwort zu seinem 1963 erschienenen Band Flussufer, „können prall gefüllt sein mit Welt und davon überfließen. Sie können aber auch eine Geste der Abwendung sein, der Welt den Rücken kehren.“ Für das lyrische Ich in „Warten“ scheint die Erfahrung der Welt unerträglich geworden zu sein, so dass man ihr nur noch Geschrei entgegensetzen kann. Zerquält durch Torturen, kann dieses Ich nicht mehr „warten“.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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