Kurt Bartschs Gedicht „Adolf Hitler ganz allein“

KURT BARTSCH

Adolf Hitler ganz allein

Adolf Hitler, ganz allein
Baute er die Autobahn
Keiner trug ihm einen Stein,
keiner rührte Mörtel an.

Keiner half ihm, als den Krieg
Er vom Zaun gebrochen.
Dennoch dauerte der Krieg
Fast dreihundert Wochen.

Adolf Hitler ganz allein
Hackte Holz, trug Kohlen,
Heizte dann die Öfen ein
In Auschwitz, fern in Polen.

Keiner hat es kommen sehn,
Jeder hielt sich ferne.
Alle ließen es geschehn,
Aber, ach, nicht gerne.

Adolf Hitler ganz allein
Musste sich erschießen.
Außer ihm hatte kein Schwein
Einen Grund, zu büßen.

1984

aus: Kurt Bartsch: Weihnacht ist und Wotan reitet, Rotbuch Verlag, Berlin 1985

 

Konnotation

Im Rahmen eines Zyklus von 60 Gedichten, die sich mit deutschen Märchen und Mythen befassen und die Helden und Antihelden der deutschen Geschichte von Wotan bis Hitler porträtieren, hat der 1937 geborene Kurt Bartsch eine genialisch boshafte Ballade über das fatale Unschuldsbewusstsein der Deutschen geschrieben. Ein lyrisches Lehrstück, das allen Historiographien des Nationalsozialismus als Motto dienen sollte.
In seinen fünf Strophen, die er durch eingängige Kreuzreime verbindet, persifliert Bartsch die Litanei der Unschuld, die nach 1945 das Geschichtsbewusstsein der Nachkriegsdeutschen prägte: Hitler galt als der Alleinverantwortliche für die Verbrechen der NS-Zeit, die Deutschen selbst firmierten als verführte Nation. Die Absurdität einer solchen Geschichtsdeutung wird durch die penetrante Wiederholung der Eingangszeile kenntlich gemacht. Kurt Bartschs sarkastische Lektionen sind im Frühjahr und Sommer 1984 entstanden.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

2 Antworten : Kurt Bartschs Gedicht „Adolf Hitler ganz allein“”

  1. Hans sagt:

    Danke! Gedicht wurde neulich bei Telepolis mit einer Strophe zitiert, hier der Rest. Genial!

  2. Trinter sagt:

    Ein zeitloses, aufrüttelndes Gedicht. Immer aktuell, gerade jetzt, 2024

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