Kurt Bartschs Gedicht „Letzte Variation über das alte Thema“

KURT BARTSCH

Letzte Variation über das alte Thema
Nach Wolf Biermann

Solange ich mein Maul aufreiß
Genossen, ist es gut.
Ich bin der Wolf, Rotkäppchen beiß
Ich bis aufs rote Blut

Und fresse sie mit Haut und Haar.
Sie war mal meine Braut.
Wir sind schon lang geschieden zwar
Doch hab ichs nie verdaut.

Sie liegt mir wie ein Stein im Bauch.
Sie liegt mal kreuz, mal quer.
Sie lacht manchmal und flüstert auch:
„Ich bin die DDR“.

Die DDR, das ist die Welt
Und wenn sie unterginge
So war ich doch ihr größter Held
Weshalb ich lauthals singe:

Solange ich mein Maul aufreiß
Genossen, geht es weiter.
Ich bin der Wolf, Rotkäppchen beiß
Ich bis aufs undsoweiter.

1983

aus: Kurt Bartsch: Die Hölderlinie. Rotbuch Verlag, Berlin 1983

 

Konnotation

In seiner Sammlung mit „deutsch-deutschen Parodien“, die er sinnigerweise Die Hölderlinie (1983) überschrieb, hat der Dichter und Drehbuchautor Kurt Bartsch (1937–2010) so manche Ikone der ost- und westdeutschen Intelligenz mit Spott überzogen. Den Spitzenplatz für linkes Dissidententum hatte nach 1965 der Dichter und Liedermacher Wolf Biermann (geb. 1936) erobert, sein sozialistischer Messianismus wurde legendär. Bei Kurt Bartsch wird er als politischer Lautsprecher und Besserwisser porträtiert.
Der Dissident Biermann wurde 1976 aus der DDR „ausgebürgert“, ein Gewaltakt, den der Autor erst rund zwanzig Jahre später „verdaute“. Sein ironischer Kritiker Bartsch wurde 1979 aus dem DDR-Schriftstellerverband ausgeschlossen und übersiedelte 1980 mit einem Dauervisum nach Westberlin. Dem beißlustigen „Wolf“ hat Bartsch ein Lied ganz in Biermann-Manier geschrieben: in der Volksliedstrophe, die einst Heinrich Heine (1797–1856) in Vollendung zelebrierte.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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