Lars Reyers Gedicht „Ausrufung der Arten“

LARS REYER

Ausrufung der Arten

Was zwitschert dieser Vogel noch so spät,
von dem ich nicht den Namen weiß.
Synkopen, bauchig: womöglich Nachtigall,
doch deuten die Triolen mehr auf Drossel hin.

Ich halte mich zurück & falle nicht
in seine Stimme ein, denn meine Stimme
ist belegt, ich brauche keinen Ton zu simulieren,
wahrscheinlich käme eh nur Zigarettenrauch.

Ich schließ die Tür & lösch das Licht, im Dunkeln
hört man Drosselkehle, Nachtigallen-
zunge bis an das Innenohr vibrieren.
Das Auge ist nicht mehr als alter Brauch –

& starre an die Wand, daran die Karte hängt,
bis sich die Vogelnamen schälen aus der Lunge.

2007

unveröffentlicht

 

Konnotation

Welche leise bestürzende Depression vom heutigen Leipzig ausgeht, wo es nach verebbtem Baustellenlärm so still bleibt wie in einem Tagebau nach Feierabend, das zu zeigen ist unter anderem die Leistung der Gedichte von Lars Reyer“, schrieb sein Dichterkollege Norbert Hummelt über ihn. Reyer ist 1977 in Werdau geboren und hat am Leipziger Literaturinstitut studiert. Da ist nichts Abgeschautes, sondern ein parlandohafter Ton, der ohne kunstvolle Attitüden auskommt.
Vielleicht hört man in Leipzig ja die Nachtigall wieder besser, nach dem Verklingen des Baulärms. In seinem Gedicht verteidigt der Autor den Hör- gegenüber unserem arg beanspruchten Sehsinn. Seid Ohrenzeugen, nicht Augenmenschen, ruft er uns zu! Das von Zigarettenqualm strapazierte lyrische Ich lauscht im Dunkel den Rufen von Drossel und Nachtigall. Zuvor wird sogar noch die Tür verriegelt – fast ein kleines Zeremoniell. Die belegte Stimme und das vibrierende Innenohr deuten darauf hin, dass es nicht leicht ist, heute einer Nachtigall zu lauschen.

Volker Sielaff (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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