MARIE LUISE KASCHNITZ
Dein Schweigen
Du entfernst dich so schnell
Längst vorüber den Säulen des Herakles
Auf dem Rücken von niemals
Geloteten Meeren
Unter Bahnen von niemals
Berechneten Sternen
Treibst du
Mit offenen Augen.
Dein Schweigen
Meine Stimme
Dein Ruhen
Mein Gehen
Dein Allesvorüber
Mein Immernoch da.
1962
aus: Marie Luise Kaschnitz: Überallnie. Ausgewählte Gedichte 1928–1965, Claassen Verlag, Hamburg 1965
„Auch noch dem irrationalsten Gedicht“, hat die Dichterin Marie Luise Kaschnitz (1901–1974) einmal notiert, „muss man die historisch-soziologischen Erfahrungen abhören können, durch die sein Verfasser hindurchgegangen ist.“ Das verweist auf die politische Zeitgenossenschaft einer Autorin, die mit Werken über den tragischen Kern menschlicher Existenz bekannt geworden ist. In ihrem wohl berühmtesten Gedichtband Dein Schweigen – meine Stimme von 1962 ist es eine fundamentale lebensgeschichtliche Erschütterung, die sich in das Titelgedicht eingeschrieben hat: der Tod ihres Mannes, des Archäologen Guido Kaschnitz von Weinberg, im Jahr 1958.
Alle Motive der Kaschnitz sind in diesem Gedicht versammelt: die Landschaften der griechischen Mythologie, die sie mit ihrem Mann seit den 1930er Jahre auf gemeinsamen Forschungsreisen erkundet hat, und die Erfahrungen des Todes und elementaren Schmerzes, die in ihren Gedichten nach 1945 im Vordergrund stehen. Am Ende steht eine Geste der Hoffnung, das Beharren auf Präsenz in der Gegenwart: „Mein Immernochda.“
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006
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