MARIE LUISE KASCHNITZ
Geheim
Auf dem Schwarzen Brett eine Nachricht
In der Kammer die Morsezeichen
Ein Flaggenwinken vorüber
Am Himmel eine rasende Spur
O ihr Geheimnisse nur
Daß die Tage vergehen nur
Dieses leise unheimliche Rauschen
Auf dem seelenlosen Azur.
1950er Jahre
aus: Marie Luise Kaschnitz: Gesammelte Werke. Bd. 5: Die Gedichte. Claassen Verlag, Berlin 1985
„All meine Gedichte waren eigentlich nur ein Ausdruck meines Heimwehs nach einer alten Unschuld oder der Sehnsucht nach einer aus dem Geist und der Liebe neu geordneten Welt“, hat die Dichterin Marie Luise Kaschnitz (1901–1974) einmal gesagt. Man kann sich ihr Schreiben nicht abgelöst von den Erfahrungen des Krieges, des Todes und des elementaren Schmerzes vorstellen. Ein Gefühl der Ohnmacht gegenüber dem Naziregime führte Kaschnitz ins innere Exil – sie empfand sich dabei aber nicht als besonders mutig, sondern wollte „lieber überleben, lieber noch da sein, weiter arbeiten, wenn erst der Spuk vorüber war.“
Dieses kurze, reimlose Gedicht reflektiert eine Situation, in der alles verschlüsselt ist und nichts offen ausgesprochen werden kann. Es ist für das Verständnis des Textes nicht wichtig, welche Nachricht auf dem schwarzen Brett zu lesen ist. Das allenthalben Geheime und die rasende Spur am Himmel deuten jedoch auf einen Ausnahmezustand – einen Krieg? – hin. Das lyrische Ich, bang in den Himmel schauend, wünscht sich nur, dass die Tage vergehen mögen, an denen alles in einer Weise geheim und seelenlos ist, dass es unweigerlich zur Last werden muss.
Volker Sielaff (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010
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