Matthias Polityckis Gedicht „Das Unglück“

MATTHIAS POLITYCKI

Das Unglück

Wenn es dann schließlich eintritt, ist ja alles
schon tausendmal durchdacht und längst besprochen,
hast du dich schon so oft mit deiner Angst verkrochen
und alles durchgerechnet für den Fall des Falles,

daß nun, wo’s wirklich ernst wird, nicht einmal ein Pochen
im Hals dir zeigt, wie es mit Urgewalt
dich überkommt. Mit einem Herz aus Glas, ganz kalt,
tust du und läßt, was du dereinst versprochen,

und lebst ansonsten einfach weiter. Erst nach Wochen
fällt dir ein Wimmern auf, wie es ununterbrochen
ans Ohr dir dringt. Doch nebenan der Raum ist leer,

und wie du schließlich merkst, du selber bist es, der
ganz leis’ zu hören ist, da wird dir jählings schwer
ums Herz, und erst in diesem Augenblick ist es gebrochen.

2007/2008

aus: Matthias Politiycki: Die Sekunden danach. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2009

 

Konnotation

Der 1955 in Karlsruhe geborene Matthias Politycki trat zunächst als Autor sprachexperimenteller Texte hervor. Erst mit seinem 1997 erschienenen Weiberroman wurde er bekannt als profilierter Gegner einer allzu beliebigen Nachkriegsliteratur. Als Vertreter der sogenannten „Achtundsiebziger“ und eines sinnlichen „Realismus“ grenzt sich Politycki sowohl von der älteren als auch von der jüngeren Autorengeneration ab, wie sein Essayband Die Farbe der Vokale (1998) und sein Gedichtbuch Die Sekunden danach (2009) zeigen.
Wie in diesem Sonett legt Politycki in seinem gesamten Werk den Schwerpunkt auf das Erzählen und den Gebrauch tradierter Formen. Zunächst scheint den in dem Gedicht mit einem Herz aus Glas Versehenen die stattgefundene Trennung kalt zu lassen. Doch bei näherem Blick wird deutlich: Hier spricht ein Traumatisierter, den der Verlust einer geliebten Person in zwei voneinander geschiedene Wesen spaltete. Erst mit den Terzetten des Sonetts wird der schmerzliche Verlust wieder spürbar, kann die Erstarrung gebrochen werden – und bricht das Herz.

Norbert Lange (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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