Meret Oppenheims Gedicht „Herbst“

MERET OPPENHEIM

Herbst

Der Vogel platzt geräuschlos und aus seinem Bauch steigt
Ein Springbrunnen braungoldener Federn
Die Pilze lösen sich vom Boden und schweben
Von der warmen Luft getragen
Bis an die Wolken
In den Wolken lachen die Hexen
Mit ihren Fasanenaugen
Mit ihren Pfauenwimpern
Mit ihren weißen Haaren
Mit ihren steinernen Brüsten.

nach 1935

aus: Meret Oppenheim: Husch, husch, der schönste Vokal entleert sich. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2002

 

Konnotation

Mit einem Geniestreich namens „déjeuner en fourrure“ kam die erst 23-jährige Meret Oppenheim (1913–1985) ins New Yorker Museum of Modern Art. Ihre pelzüberzogene Tasse verfolgte die Muse der Pariser Surrealisten bis an ihr Lebensende. Oppenheim probierte sich in beinahe allen Genres aus, fertigte Objekte, Materialcollagen, Zeichnungen und Bilder, mal gegenstandslos, mal realistisch. „Man weiß nicht, woher die Einfälle einfallen“, soll die vor Ideen übersprudelnde Künstlerin gesagt haben. Ihre Gedichte sind so wild, so unberechenbar und zuweilen rätselhaft wie sie selbst es gewesen sein muss.
Die Blätter des Herbstes steigen hier als „Springbrunnen braungoldner Federn“ aus dem Bauch eines Vogels auf, und auch die Pilze zieht es bis zu den Wolken hoch: zu den Hexen, deren Attribute die Dichterin – für jedes eine Zeile – mit überbordender Phantasie beschreibt. Max Ernst, mit dem Oppenheim, ebenso wie mit André Breton und Marcel Duchamp, verkehrte, hätte seine wahre Freude daran gehabt. Wir wissen aber nicht, ob er ihre Gedichte gelesen hat.

Volker Sielaff (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00