Michael Krügers Gedicht „Auf der Brücke“

MICHAEL KRÜGER

Auf der Brücke

Der Fluß ist gestiegen über Nacht,
am Morgen flüchtet das braune Wasser
der Schmelze unwillig unter mir weg.
Kein Bild kann sich halten im Spiegel
der Natur. Und doch bleibst du stehn.
Auch das Blut ist nicht zu beruhigen
an diesem Morgen, fliehend keucht es
durch meinen Körper, als sei kein Halt
mehr. Das andere Ufer ist unsichtbar.
Und kein Meer weit und breit, in das du
dich stürzen kannst. Nur übertriebene
Bilder in tragischen Wirbeln,
die im Wasser gurgelnd untergehn.

2008

aus: Michael Krüger: Schritte, Schatten, Tage. Grenzen. Gedichte 1976–2008. Hrsg von Hans Jürgen Balmes u. Jörg Song. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2008

 

Konnotation

Es ist ein Augenblick der Selbsterkundung, der das immer nur Vorläufige, die Täuschungsanfälligkeit und das Vergängliche aller Erkenntnis festhält. Auf einer Brücke kommt das lyrische Subjekt ins Grübeln, doch der Blick in den heftig bewegten Fluss verheißt keine hilfreiche Selbstreflexion mehr. Die Koordinaten des eigenen Daseins lassen sich nicht mehr bestimmen – die Selbstbesinnung findet keinen Halt, die Zielpunkte des Lebens bleiben unsichtbar.
Die Gedichte Michael Krügers (geb. 1943) werden getragen von einer philosophischen Skepsis, die allen Konzepten einer zu sich selbst kommenden Vernunft, eines Weltgeistes oder auch nur einer sinnlichen Gewissheit misstraut und sich lieber den einzelnen Phänomenen, den wundersamen Erscheinungen der Dingwelt widmet. So kann dem Beobachter „auf der Brücke“ auch keine erlösende Erkenntnis gelingen, sondern nur das Registrieren „übertriebener / Bilder in tragischen Wirbeln“.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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