Michael Krügers Gedicht „Herzklopfen“

MICHAEL KRÜGER

Herzklopfen

Es sind die einfachen Dinge,
die uns nicht schlafen lassen:
ein Herzklopfen,
eine Handergreifung,
ein verwundertes Umsichschauen.
Nicht die krausen Gedankenspiele,
nicht die wunderlichen Grübeleien,
nicht der tolle Maskenscherz
der Wahrheit.
Es ist die große Fußstapfe,
die uns plötzlich den Weg weist,
halb gebietend, halb segnend,
und klopfenden Herzens
stolpern wir durch den Schlaf.

um 1980

aus: Michael Krüger: Archive des Zweifels. Gedichte aus drei Jahrzehnten. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2001

 

Konnotation

Die Lieblingsdisziplin der melancholischen Helden Michael Krügers (geb. 1943) ist das Scheitern, das sie am liebsten in eine eigene Kunstform umwandeln möchten. Die tragikomischen Wissenschaftler seiner Erzählungen irrlichtern auf inneren Forschungsreisen durch Archive, Ateliers, Museen und Bibliotheken, ohne der Erfüllung ihrer Träume je näher zu kommen. Ihre Existenzphilosophie ist ein grüblerischer Skeptizismus. Auch die lyrischen Protagonisten Krügers sind passionierte Zweifler und Grübler.
Die Schlaflosigkeit ist unter Geistesmenschen zur epidemischen Krankheit geworden. Der Bewusstseinspoet Krüger bietet in seinem um 1980 entstandenen Gedicht eine verblüffende Ursachenforschung an: Nicht die Endlosschleifen der Gedankenlabyrinthe oder gar die undurchschaubaren Maskenspiele der vermeintlichen „Wahrheit“ sind es, die uns nicht schlafen lassen, sondern unerwartete Körpersensationen oder unverwandte Blicke, die unser seelisches Koordinatensystem erschüttern.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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