Nelly Sachs’ Gedicht „Hölle ist nackt aus Schmerz –…“

NELLY SACHS

Hölle ist nackt aus Schmerz –
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sprachlos
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Überfahrt in die Rabennacht
mit allen Sintfluten
und Eiszeitaltern umgürtet
Luft anmalen
mit dem was wächst hinter der Haut
Steuermann geköpft mit dem Abschiedsmesser
Muschellaut ertrinkt
Su Su Su

nach 1960

aus: Nelly Sachs: Werke. Kommentierte Ausgabe, Band 2: Gedichte 1951–1970. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010

 

Konnotation

Ich lebe nicht mehr gerne“, so schrieb Nelly Sachs (1891–1970) zwei Jahre vor ihrem Tod an Hans Magnus Enzensberger. Die Schlusszeile ihres Gedichts darf man als Reminiszenz an eines der späten Gedichte Hölderlins lesen, das mit denselben Worten abschließt. Sachs war als Jüdin 1940 der Deportation, der viele ihrer Verwandten und Freunde zum Opfer fielen, nur knapp ins schwedische Exil entkommen. Dennoch quälten sie Zeit ihres Lebens Angst, Krankheit und Todessehnsucht, die Tortur der Überlebenden.
Nach neuromantischen Anfängen bewegte sich das lyrische Werk der Nelly Sachs auf eine Poetik des Schweigens zu. Wie in den Gedichten Paul Celans umkreist Sachs in ihren späten Gedichten eine sprachlich nicht fassbare Lücke. Nicht nur die Gedichte enden so im Schweigen oder Stammeln („Su Su Su“), die ästhetische Prämisse des nicht Aussprechbaren bricht die Sätze auf, reduziert sie auf nominale Fragmente, Fetzen im Telegrammstil oder löst sogar Worte in einzelne Silben auf.

Norbert Lange (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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