Nico Bleutges Gedicht „leichter sommer“

NICO BLEUTGE

leichter sommer

als läge noch eine schicht zwischen ihnen
und dem schmalen streif der küste
traten die wolken hervor, scharf ab-
geschnitten an der unteren kante, oben
ein faltiger riemen, in den die möwen kleine
löcher stanzten. beim nächsten aufschauen
hatte dunst die fläche aufgerauht und der wind
verfing sich in den drahtnetzen
knapp unterm wasserspiegel, die vögel
waren längst verschwunden, der himmel
hielt noch ein weilchen jene luft
die unter ihren flügeln rauschte

2001/02

aus: Nico Bleutge: klare konturen. C.H. Beck Verlag, München 2006

 

Konnotation

Das Abenteuer des Sehens beginnt für den Lyriker Nico Bleutge (geb. 1972) mit einem Blick „nur aus den Augenwinkeln“. Der Ausgangspunkt ist dabei nicht ein besitzergreifendes, die Dinge klar trennendes Sehen, sondern ein Zustand „entgrenzter Wahrnehmung“, in dem die vertrauten Konturen der Phänomene sich erst einmal auflösen. Hier wird alles in seinen sinnlichen Einzelheiten genau beobachtet – auch die Übergänge und Unschärfen zwischen den einzelnen Figurationen.
Das 2001/2002 entstandene Gedicht, das dem französischen Poeten Bernhard Noël gewidmet ist, liest sich wie ein subtiler Beitrag zur poetischen „Geschichte der Wolken“ (Gregor Laschen). Eine feste Gestalt, eine unverrückbare Kontur der Wolken im Zusammenspiel mit dem Wind, der Luft und den sie durchquerenden Vögeln ist im Gedicht nicht fixierbar. So zeigt die Dichtung Nico Bleutges die Übergänge – den Schwebezustand des Naturstoffs im „leichten Sommer“.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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