NICOLAS BORN
Frühlingsgedicht
Alle Tiere kommen aus den Fabeln zurück
Unterm Dach macht mir ein Uhu Kopfzerbrechen
aaaaaMarder tanzen im Visier.
Im Apfelbaum sitzt eine Amsel, sie weiß:
aaaaadies ist ihr Jahr.
Liebe Amsel, weißt du daß du auf meinem
aaaaaApfelbaum sitzt?
Schon gut – mein Traum, in dem ich dich ansehe
aaaaaist so verzweigt wie der Apfelbaum
und du schwingst darin und die Zweige
aaaaaschwingen wie Flügel.
Ich will dich nicht haben, ich will dich nur sehn
und du sollst wiederkommen jedes Jahr
aaaaamit demselben Traum.
1975
aus: Nicolas Born: Gedichte. Hrsg. v. Katharina Born. Wallstein Verlag, Göttingen 2004
„Dies ist der Anfang meiner naturmystischen Phase“, schrieb am 26.4.1975 der Dichter Nicolas Born (1937–1979) an seinen Freund und Lyrikerkollegen Rolf Haufs (geb. 1935) in einem knappen Kommentar zu diesem Gedicht. Nur mit einer gewissen Skepsis lässt sich dieser Satz als programmatisches Bekenntnis werten. Denn Nicolas Born hatte zuvor immer eine offene Poetik der „rohen, unartifiziellen Formulierung“ favorisiert – zugleich aber auch Wunschbilder gegen einen „eingepaukten Wirklichkeitskatalog“ gefordert.
Das Gedicht ist zu Lebzeiten Nicolas Borns in keinem seiner Gedichtbände publiziert worden; es erschien 1981 posthum in einer Lyrik-Anthologie. Es spricht von der Rückkehr der Tiere aus mythischen und symbolgeschichtlichen Zusammenhängen in die sinnlich erfahrbare Realität. Und von einer stummen, ja mystischen Zwiesprache zwischen dem lyrischen Ich und der Amsel, dem Totemtier der Vergänglichkeit. Hier vollzieht sich ein seltener Elementaraugenblick: die Verständigung zwischen Mensch und Natur – ohne dass sich ein instrumentelles Interesse einschleicht.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009
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