Nikolas Lenaus Gedicht „Winternacht“

NIKOLAUS LENAU

Winternacht

Vor Kälte ist die Luft erstarrt,
Es kracht der Schnee von meinen Tritten,
Es dampft mein Hauch, es klirrt mein Bart:
Nur fort, nur immer fortgeschritten!

Wie feierlich die Gegend schweigt!
Den Mond bescheint die alten Fichten,
Die, sehnsuchtsvoll zum Tod geneigt,
Den Zweig zurück zur Erde richten.

Frost! Friere mir in’s Herz hinein
Tief in das heißbewegte, wilde!
Daß einmal Ruh’ mag drinnen sein,
Wie hier im nächtlichen Gefilde!

1832

 

Konnotation

Die Literaturgeschichte verzeichnet ihn als tragischen Poeten des Weltschmerzes: Nikolaus Franz Niembsch, Edler von Strehlenau, der sich selbst Nikolaus Lenau (1804–1850) nannte, verließ 1832 den Schwäbischen Dichterkreis um Ludwig Uhland, um in den Wäldern Pennsylvanias seine Melancholie abzuschütteln und ein neues Leben als Farmer zu beginnen. Nur ein Jahr später kehrte er aus Amerika enttäuscht zurück, und es begann für Lenau eine lange Leidensstrecke des Liebesunglücks. Sein „heißbewegtes, wildes Herz“ fand bei den jeweiligen Geliebten keine Ruhe, 1844 verfiel er dem Wahnsinn.
Der von innerer Unruhe vorwärts getriebene Wanderer im Schnee registriert überall Zeichen der Erstarrung. Das im Januar 1832 entstandene Gedicht demonstriert exemplarisch das poetische Verfahren des Spätromantikers: Die Empfindung der Verlassenheit wird auf die Naturphänomene übertragen, die winterliche Landschaft ist insofern die Idealkulisse für einen Todessüchtigen.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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