NIKOLAUS LENAU
An die Melancholie
Du geleitest mich durch’s Leben,
Sinnende Melancholie!
Mag mein Stern sich strahlend heben,
Mag er sinken – weichest nie!
Führst mich oft in Felsenklüfte,
Wo der Adler einsam haust,
Tannen ragen in die Lüfte,
Und der Waldstrom donnernd braust.
Meiner Todten dann gedenk’ ich,
Wild hervor die Thräne bricht,
Und an deinen Busen senk’ ich
Mein umnachtet Angesicht.
1832
„Ich will mich selbst ans Kreuz schlagen, wenn es nur ein gutes Gedicht gibt.“ An diese selbstquälerische Devise hat sich Nikolaus Lenau, der 1802 als Franz Nikolaus Niembsch bei Temesvar im damals ungarischen Banat geboren wurde, immer gehalten. Der Leitstern seines von unglücklichen Liebesbeziehungen und gescheiterten Projekten zermürbten Lebens war von Beginn an die Schwermut. Das lyrische Subjekt in dem 1832 entstandenen Gedicht erhebt auf die „sinnende Melancholie“ eine Art Besitzanspruch.
Kurz vor oder nach der Niederschrift dieses Gedichts vollzog sich Lenaus größtes Fiasko. Im Oktober 1832 wagte er die Überfahrt nach Amerika, um dort ein neues Leben als Farmer zu beginnen. Das erreichte Ziel enthüllte sich indes dem großen Depressiven, der immer auf der Flucht vor sich selber war, als unerhörte Täuschung. Lenau floh nach einem Jahr zurück in die Alte Welt. Ab 1844 erfüllte sich die düstere Vision der letzten Gedichtzeile: Lenau verfiel dem Wahnsinn und starb 1850 in einer Irrenanstalt bei Wien.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008
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