NORA BOSSONG
Kortex
Es war nicht dieser Fuchs
auf Nahrungssuche, den wir verfolgten
vor einer Medizinerfakultät,
entlang der Streifenspur auf dem Asphalt.
Vor einer Kneipe blieb er stehen,
als wäre er ein Hund und wollte
sein Revier markieren, die Beine
zitterten im Vierertakt und drinnen
klapperte ein Flipper. Es war nicht
diese Art von Kneipen, in der wir
Aschenbecher stahlen, ein Taxi
hielt zu dicht am Bordstein, besetzt,
sonst hätten wir den Fuchs hinein-
gelockt mit einem Lederhandschuh.
Und doch, ein Haar blieb hängen
und auf dem Rückweg sahen wir
in jener Fakultät zwei Männer,
Skalpelle waschend und im Gebüsch
ein Katzenjunges schlafen
mit Bissen an der Kehle.
2007
aus: Nora Bossong: Reglose Jagd. Zu Klampen Verlag, Lüneburg 2007
Ein wildes Tier verirrt sich in die Reviere der exakten Naturwissenschaften – und schon prallen Welten aufeinander, die ansonsten strikt getrennt sind: das Archaische, Undomestizierte kollidiert mit einer Sphäre der Wissenschaften, die alles Geheimnishafte zu eliminieren trachten. Befragt nach der starken Präsenz von Tieren in ihren Gedichten, hat Nora Bossong (geb. 1982) auf Hitchcocks Film Die Vögel verwiesen, der die tradierten Machtverhältnisse umkehrt. In Die Vögel jagt nicht der Mensch das verängstigte Tier, sondern wird selbst zum Opfer von Tier-Attacken.
Das Tier als Akteur, das die Überlegenheit des Menschen in Frage stellt und für Verstörung sorgt – das ist eine Konstellation, wie wir sie häufig in Bossongs Gedichten vorfinden. Ihre Gedichte skizzieren Geschichten und Alltagsszenen. aber diese Geschichten lassen durch Verkürzungen und Verknappungen alles in der Schwebe. Ihre Poesie siedelt in einem Zwischenraum, in dem nichts auserzählt wird, sondern alles nur im Modus der Andeutung greifbar wird.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010
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