PAUL WÜHR
Ich habe den Fehler nicht
machen müssen weil
der sagt
ich bin der Fehler
der ich bin
lasset uns den Fehler machen
ein Bild
das uns gleich sei
1970
aus: Paul Wühr: Grüß Gott ihr Väter ihr Töchter ihr Söhne. Hanser Literaturverlag, München 1976
Für Paul Wühr (geb. 1927) ist die Poesie „die Muttersprache des menschlichen Geschlechts“, die einen Gegenentwurf zu den starren Strukturen, mit denen wir uns abgefunden haben, liefern muss. Wühr schreibt an gegen alle „falschen Sprachen“, sei es der Religion, der Sexualität oder des Staates und seiner Institutionen. Er ist ein Dichter der Irritation, der systematisch Sätze zusammenstaucht oder zertrümmert, um zu zeigen, welches unausgeschöpfte Potential in einer nicht-herrschaftlichen Sprache liegt. Das schließt ein, dass Menschen sich unbedingt Fehler leisten dürfen. Oder ist der Mensch gar selbst der Fehler?
Dieses kleine Gedicht dreht sich spielerisch um sich selbst, es will uns Mut machen, uns sagen, sorgt euch nicht, es kann euch nichts passieren. Lasst euch verlocken von der Poetik des Fehlers! Im Fehlermachen erkennen wir uns selbst, der Fehler ist unser Ebenbild, weil wir zweifellos fehlbar sind. Und wenn wir uns so sehen – schönes Paradox – müssen wir den Fehler nicht erst machen, dann sind wir, was wir sind: Mängelwesen.
Volker Sielaff (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010
Schreibe einen Kommentar