PAUL WÜHR
Lüge ich wenn ich
Lüge ich wenn ich
sage ich habe
mit ihr nicht
geschlafen
oder hätte ich
gelogen
wenn ich nicht
mit ihr
geschlafen hätte
oder log ich
als ich mit ihr
schlief
nach 1970
aus: Paul Wühr: Grüß Gott Rede. Gedichte, Carl Hanser Verlag, München-Wien 1990
„Ich will“, hat der 1927 geborene Paul Wühr einmal gesagt, „dass alles, was gesagt wird, ins Wackeln kommt, immer wieder neu.“ Als Prophet einer Poetik des „Falschen“ will er in seinen zyklisch gebauten Gedicht-Werken die geordneten Wahrheiten aus den Angeln heben: „Die Wahrheit muss immer wieder von der Lüge angebohrt werden. Die Wahrheit ist grauenerregend.“ So erzeugt er die fortdauernde Bedeutungsverschiebung von Sätzen, Lexemen, Idiomen und Bildern.
Die Wahrheit hinter den Bekundungen des Ich wird nicht ans Licht treten. Denn je nach Perspektive wird der Vollzug des sexuellen Aktes oder der Wunsch nach ihm als Lüge dargestellt. Alles bleibt unter dem Vorbehalt des Konjunktivs oder wird im Modus der Frage reflektiert. Dieses in den 1970er Jahren entstandene Gedicht betreibt ein reizvolles kaleidoskopisches Spiel, das ohne letzte Gewissheit auskommt.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006
Schreibe einen Kommentar