PETER HANDKE
Angesichts des Zweigs vor dem Himmel:
Gewiß erwarte ich keine Gotteserscheinung.
Aber ich erwarte doch mehr zu sehen,
Als ich im Augenblick sehen kann.
Und ich weiß,
Daß ich mehr sehen kann –
Viel mehr.
Und als ich das dachte,
Hörte in meinem Innern das Zählen auf.
1982
aus: Peter Handke: Leben mit Poesie. Hrsg. v. Ulla Berkéwicz. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2008
„… – und in dieser zitternden Minute knisterte der Monatszeiger meiner Uhr…“: Dieses Jean Paul-Zitat eröffnet eine Gedichtsammlung des „lyrischen Epikers“ Peter Handke (geb. 1942), der nicht müde wird zu betonen, er sei eigentlich kein Lyriker. Das Jean Paul-Zitat zeigt programmatisch an, welchen Weg Handke in seinen seltenen dichterischen Arbeiten einschlägt: Es geht hier wie in seiner Prosa um kostbare Augenblicke der Wahrnehmungs-Belebung, um die Sekunden der „wahren Empfindung“ und die Rettung der Dinge durch das genaue Sehen.
Das lyrische Ich Handkes erwartet in diesem 1982 erstmals publizierten Gedicht zwar keine Epiphanie, also nicht die Erscheinung eines Göttlichen – aber durchaus die Offenbarung einer realen Präsenz, eine gesteigerte Wahrnehmung, die das Alltägliche transzendiert. Dazu genügt die Entdeckung eines „Zweigs vor dem Himmel“. Dann wird die funktionale Betrachtungsweise aufgehoben, der Schauende gerät außerhalb der Zeit.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009
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