Rainer Malkowskis Gedicht „Schöne seltene Weide“

RAINER MALKOWSKI

Schöne seltene Weide

Manchmal, nach einem Herbststurm,
wenn die Luft still und gefegt ist,
gehe ich im Garten umher und zähle
die abgeschlagenen Äste.
Nur die Weide zeigt keine Veränderung.
Ich bewundere sie lange:
nicht immer sieht es so schön aus,
wenn die Biegsamkeit überlebt.

1975

aus: Rainer Malkowski: Was für ein Morgen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1975

 

Konnotation

Unsere Lieblingsgedichte“, so hat der Wahrnehmungs-Poet Rainer Malkowski (1939–2003) einmal notiert, „sind wahrscheinlich jene, bei denen wir am deutlichsten fühlen, daß sie uns sehend machen“. Malkowski war wie einer seiner lyrischen Helden „ein leiser Erzieher“. Es genügte der so beiläufige wie präzise Blick auf die Dinge der Natur und des Alltags – und gleich begann ein Gegenstand oder ein Naturstoff in neuer Sichtbarkeit aufzuleuchten. Wie die Weide in einem Herbstgedicht seines Debütbands Was für ein Morgen (1975).
Die kleine Beobachtung „nach einem Herbststurm“ weitet sich aus zu einer parabelhaften Lektion. Denn das Ich begnügt sich nicht mit dem Protokollieren seiner Beobachtung. Es schließt sich in den Schluss-Versen eine Reflexion an, die über die staunende Bewunderung eines standhaften Baumes hinausgeht. Die „Biegsamkeit“ erscheint dem Ich nicht prinzipiell als positive Qualität. Die Naturbeobachtung öffnet sich hin zur philosophischen Reflexion.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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