Rainer Maria Rilkes Gedicht „Abschied“

RAINER MARIA RILKE

Abschied

Wie hab ich das gefühlt was Abschied heißt.
Wie weiß ichs noch: ein dunkles unverwundnes
grausames Etwas, das ein Schönverbundnes
noch einmal zeigt und hinhält und zerreißt.

Wie war ich ohne Wehr, dem zuzuschauen,
das, da es mich, mich rufend, gehen ließ,
zurückblieb, so als wärens alle Frauen
und dennoch klein und weiß und nichts als dies:

Ein Winken, schon nicht mehr auf mich bezogen,
ein leise Weiterwinkendes – , schon kaum
erklärbar mehr: vielleicht ein Pflaumenbaum,
von dem ein Kuckuck hastig abgeflogen.

1906

 

Konnotation

Sigmund Freud hat einmal behauptet, dass die deutsch-russische Schriftstellerin und Psychoanalytikerin Lou Andreas-Salomé (1861–1937) dem „im Leben ziemlich hilflosen Dichter Rainer Maria Rilke zugleich Muse und sorgsame Mutter gewesen“ sei. Sicher ist, dass Lou für den jungen Rilke (1875–1926) rund drei Jahre lang eine „mütterliche Geliebte“ war, bis sie im Sommer 1900 den Beschluss fasste, sich von dem labilen Dichter zu trennen. Eine zentrale Abschiedsszene dieser unglücklichen Liebe hat das 1906 entstandene Gedicht festgehalten.
Der berührende Text konzentriert sich auf den herzzerreißenden Augenblick des Abschieds. Rilke benennt die Wehrlosigkeit und die Ohnmacht des Zurückgebliebenen, der als kaum mehr handlungsfähige Gestalt zerfällt, wenn der Abschied vollzogen wird. Das lyrische Ich empfindet sich als beliebiges Objekt, dem die Grußgebärde des Winkens gar nicht mehr gilt.
Nach dem Verschwinden der geliebten Frau bleibt nur noch der Schmerz zurück.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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