Rainer Maria Rilkes Gedicht „Advent“

RAINER MARIA RILKE

Advent

Es treibt der Wind im Winterwalde
die Flockenherde wie ein Hirt,
und manche Tanne ahnt, wie balde
sie fromm und lichterheilig wird;
und lauscht hinaus. Den weißen Wegen
streckt sie die Zweige hin – bereit,
und wehrt dem Wind und wächst entgegen
der einen Nacht der Herrlichkeit.

1896/97

 

Konnotation

Das Titelgedicht von Rainer Maria Rilkes (1875–1926) frühem Gedichtband Advent gehört nach wie vor zu den berühmtesten Weihnachtsgedichten in deutscher Sprache. Es verdankt seine fortdauernde Popularität sicherlich der Frömmigkeit, mit der hier die Verheißung der christlichen Weihnachtsbotschaft lyrisch in Szene gesetzt wird.
Der jambische Versfluß mit den Kreuzreimen und die suggestive Personifikation der Naturerscheinungen sorgen dafür, dass hier die Sehnsucht nach einer weißen Weihnacht ungebrochen bewahrt wird. Nicht nur die in einen Weihnachtsbaum umfunktionierte „Tanne“, sondern auch der Leser wird vor so viel Feierlichkeit „fromm und lichterheilig“. Natur und Subjekt sind vereint in einer Naherwartung: Hingebungsvoller und verzauberungswilliger ist in der deutschen Lyrik kaum je über „die eine Nacht der Herrlichkeit“ gedichtet worden wie in diesem 1896/97 entstandenen Gedicht. Erst nach Rilkes „Advent “ beginnen die Ernüchterungserfahrungen der lyrischen Moderne.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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