Rainer Maria Rilkes Gedicht „Stiller Freund der vielen Fernen“

RAINER MARIA RILKE

Stiller Freund der vielen Fernen

Stiller Freund der vielen Fernen, fühle,
wie dein Atem noch den Raum vermehrt.
Im Gebälk der finstern Glockenstühle
laß dich läuten. Das, was an dir zehrt,

wird ein Starkes über dieser Nahrung.
Geh in der Verwandlung aus und ein.
Was ist deine leidendste Erfahrung?
Ist dir Trinken bitter, werde Wein.

Sei in dieser Nacht aus Übermaß
Zauberkraft am Kreuzweg deiner Sinne,
ihrer seltsamen Begegnung Sinn.

Und wenn dich das Irdische vergaß,
zu der stillen Erde sag: Ich rinne.
Zu dem raschen Wasser sprich: Ich bin.

1922

 

Konnotation

Rainer Maria Rilkes meisterliche „Sonette an Orpheus“, 1922 in Muzot beendet, haben das Publikum gespalten. So ärgerte Brecht Rilkes „schwules Verhältnis“ zu Gott, Benn wiederum geißelte die Mischung „aus Schmutz und Lyrischer Größe“. Und in ihren Memoiren wusste Claire Goll über das Selbstbild des ehemaligen Liebhabers folgendes zu erzählen: „Rilke war der Fall eines Mannes, der sich in seinen Versen ständig selber imponiert.“
„Nur wer die Leier schon hob / auch unter Schatten, / darf das unendliche Lob / ahnend erstatten“, so erhebt ein selbstbewusstes Seher-Ich seine Stimme in einem anderen der Sonette an Orpheus. Die Mythe ist die Folie, auf der Rilke zu einer modernen Form des Gedichts gelangt, das sich selbst mit zum Thema macht. Anfang und Ziel dieser Dichtung ist es, zu einem Weltverständnis zu gelangen, dessen Zentrum das Subjekt ist oder die Sprache, die durch es spricht.

Norbert Lange (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00