Regina Ullmanns Gedicht „Und stirbt sie auch,…“

REGINA ULLMANN

Und stirbt sie auch,
so trifft dich kein Verschulden.
Sie hat sich ihren Tod
selbst wie ein Hemd gewoben
und hat sich eng und hart hineingeschoben,
die Formeln murmelnd,
die diesen grauen Sinn
nach innen wachsen machen
und sie ganz umschließen.
Daß nicht ein Baum
und nicht ein Vogelsang

und alle Süße, die in reifen Früchten
geborgen ist,
sie jemals mehr durchbricht.
Sie stirbt so wie ein Stein
in sandiger Ebene.
Es wird ihn keiner finden,
dies Sein zerteilt sich wieder
in das Land.
Und nur Jahrtausende noch,
die verwandeln
im Kreisen ihrer Erde,
sagen riesig: lieben.

1920er Jahre

aus: Regina Ullmann: Erzählungen, Prosastücke, Gedichte. Erster Band. Kösel Verlag, München 1978

 

Konnotation

Regina Ullmann (1884–1961), die Tochter eines jüdischen Stickerei-Kaufmanns und einer überaus dominanten Mutter aus Sankt Gallen, litt in ihrer Kindheit unter starken Sprachhemmungen. Die ehrgeizige Mutter, die der Tochter kaum Autonomie zugestand, hatte ihr dennoch früh eine dichterische Laufbahn zugedacht. Zu Ullmanns treuestem Förderer wurde bald Rainer Maria Rilke (1875–1926) – ohne indes verhindern zu können, dass die schwermütige Dichterin von einer Krise in die nächste stürzte.
Der Tod ist in den Gedichten und Erzählungen Regina Ullmanns ein ständiger Begleiter des Ich. Die lyrische Heldin des vorliegenden Gedichts hat sich derart in eine Todessehnsucht eingewoben, dass es kein Außerhalb mehr gibt und nur noch die Selbstauflösung und die Rückverwandlung in Erde und Staub denkbar sind. Am Ende überrascht das Gedicht dann doch mit dem Bekenntnis zu einer Leidenschaft der Hoffnung: zum „lieben“.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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