REGINA ULLMANN
Erwachen
Ich lag in dir noch unverzweigt,
du tiefer Felsen einer Nacht;
so kalt wie Stein und trostesarm.
Da fühlt ich plötzlich, wie der Tag
sich an dem Sein im Licht verfing
und liebewarm und flammenhaft
sich an die kleinsten Dinge hing.
Da war ich wach.
Doch war mir noch ein Silberklang,
der sich an einem Zimbal schlug,
erhörbar
und meines Engels Morgengang
nach 1910
aus: Regina Ullmann: Erzählungen, Prosastücke, Gedichte. Bd. I, Kösel-Verlag, München 1978
„Ihre Seele ist wie ein Blindgeborener, den ein Seher erzogen hat.“ So urteilte Rainer Maria Rilke über die Dichterin Regina Ullmann (1884–1961), auf deren irritierende Kunst er 1908 aufmerksam geworden war. Zu diesem Zeitpunkt stand Ullmann schon unter der bedrängenden Obhut ihrer Mutter, die ihre Tochter 54 Jahre lang fürsorglich belagerte. Der Psychoanalytiker Otto Groß, von dem sie eine Tochter hatte, legte der stark depressiven Dichterin „die Vorzüge des Freitods“ nahe. Schließlich zog sich Ullmann in ein katholisches Hospiz in St. Gallen zurück.
Der neoromantische Zauber von Ullmanns Gedichten verdankt vieles dem Einfluss Rilkes. In ihrer lyrischen Evokation von Nacht und Tag und dem Vorgang des Erwachens werden in dem nach 1910 entstandenen Gedicht sofort Transzendenz-Erfahrungen aufgerufen. Das Ich registriert den Übergang in eine himmlische Sphäre: Davon kündet nicht nur die Gegenwart eines „Engels“, sondern die magische Musik eines uralten Instruments.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006
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