REINER KUNZE
2000 nach Christus
So viele stimmen, so viele anwälte,
und jeder im besitz
des ganzen himmels
Und die mitverschworenen des selbstmordattentäters,
der sich an der bombe kreuzigte,
kamen am abend ins dorf –
die mutter saß im haus
mit leeren armen –
und feierten
das beileidsfreudenfest
um 1998
aus: Reiner Kunze: ein tag auf dieser erde. Gedichte. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 1993
In nur zehn Gedichtzeilen wird hier die Tragödie des religiösen Fundamentalismus zum fatalistischen Denkbild konzentriert. Ausgerechnet das „Heilige Land“, in dem einst der religiöse Abweichler Jesus von Nazareth einen Tod als Märtyrer starb, wird von neuen „Märtyrern“ zum Schlachtfeld verwandelt. Der Selbstmordattentäter behauptet nicht nur einen Alleinvertretungsanspruch auf Wahrheit, sondern auch das selbstverständliche Recht auf einen Platz im Himmel.
Der 1933 geborene Reiner Kunze protokolliert in dieser sarkastischen Miniatur, die Mitte der 1990er Jahre entstand, das Verhängnis einer religiösen Ideologie, die eine prinzipielle Tötungsbereitschaft gegenüber den „Ungläubigen“ einschließt. So geraten die Hinterbliebenen eines Selbstmordattentäters in die paradoxe Lage, den Tod ihres Angehörigen nicht zu betrauern, sondern als heldenhaften Märtyrertod zu bejubeln. Daraus entsteht etwas zutiefst Widersprüchliches: das „beileidsfreudenfest“.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007
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