Reinhold Schneiders Gedicht „Allein den Betern kann es noch gelingen,…“

REINHOLD SCHNEIDER

Allein den Betern kann es noch gelingen,
Das Schwert ob unsern Häuptern aufzuhalten
Und diese Welt den richtenden Gewalten
Durch ein geheiligt Leben abzuringen.

Denn Täter werden nie den Himmel zwingen:
Was sie vereinen, wird sich wieder spalten,
Was sie erneuern, über Nacht veralten,
Und was sie stiften, Not und Unheil bringen.

Jetzt ist die Zeit, da sich das Heil verbirgt,
Und Menschenhochmut auf dem Markte feiert,
Indes im Dom die Beter sich verhüllen,

Bis Gott aus unsern Opfern Segen wirkt
Und in den Tiefen, die kein Aug entschleiert,
Die trocknen Brunnen sich mit Leben füllen.

1936

aus: Reinhold Schneider: Gesammelte Werke Bd. 5. Insel Verlag, Frankfurt a.M. 1981

 

Konnotation

Der christliche Tragiker Reinhold Schneider (1903–1958) wurde im literarischen Nachkriegsdeutschland zunächst als Vertreter eines religiösen Humanismus hofiert, um dann im Gefolge der Studentenrevolte von 1967/68 als „verstaubt“ und „reaktionär“ ad acta gelegt zu werden. Die Schwermut, in die er in den 1920er Jahren nach dem Selbstmord seines Vaters gestürzt war, erhob Schneider in seinem literarischen Werk zum Daseinsgesetz jeder geschichtlichen Existenz.
Bereits 1936, lange vor den furchtbaren Vernichtungskriegen Nazi-Deutschlands, entstand Schneiders berühmtes Sonett über die Selbstbehauptung der „Beter“, einer jener Texte, mit denen der Autor in den Kriegsjahren „literarischen Sanitätsdienst“ leisten wollte. Seine Sonette hat Schneider einmal mit der Grabstätte der spanischen Könige verglichen und von ihrer symmetrischen Architektonik gesprochen. Tatsächlich haben all diese Sonette etwas schwerfällig Rhetorisches, einen auf Verkündung und Predigt gestimmten Ton.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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