RICARDA HUCH
Bestimmung
Was ist in deiner Seele,
Was ist in meiner Brust,
Daß ich mich dir befehle,
Daß du mich lieben mußt?
Vom Haus, wo ich gewohnt
Und zart behütet bin,
Ziehst du mich, wie der Mond,
Nachtwandelnd zu dir hin.
nach 1907
aus: Ricarda Huch: Gesammelte Werke. Band 5. Hrsg. von Wilhelm Emrich. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1971
Die Erfahrung tragischen Scheiterns in der Liebe hat die neuromantische Dichterin und Historikerin Ricarda Huch (1864–1948) gleich zweimal durchleben müssen. 1887 verließ sie ihr großbürgerliches Elternhaus in Braunschweig, weil die leidenschaftliche Hinwendung zu ihrem Vetter Richard, dem Mann ihrer Schwester, ein unhintergehbares Tabu war. Auch der 1898 unternommene Versuch einer Ehe mit einem italienischen Zahnarzt verlief unglücklich. Als sie nach dem Tod ihres ersten Mannes 1907 die Liaison mit ihrem Vetter wieder anfachte, stieß sie auch hier rasch an Grenzen.
Eine erfüllte Liebe war bei Ricarda Huch nur im Gedicht möglich. Die gegenseitige Anziehungskraft der Liebenden zieht in diesem nach 1907 entstandenen Gedicht alles in seinen Bann. Der zweite Teil des Textes scheint die Bewegung ihres Lebens abzubilden: Das Ich verlässt sein Elternhaus und gerät in die unwiderstehliche Sogkraft der Gefühle. Liebe erscheint als Naturmacht, die keine Vernunft kontrollieren kann.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007
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