Richard Leisings Gedicht „Küste“

RICHARD LEISING

Küste

Wind und Himmel, ja, Weite, aber
Das Wasser hält keine Spuren

Ich werde zurückgehen ins Land

Meine Kraft reicht nicht zum Verzichten
Aus, nur zu Versuchen noch; und das Land
Antwortet vielleicht, wie die See
Dem Himmel auch?

Es ist nicht so, dass ich schweige
Ich kann nur nicht sprechen

Geh zurück ins Land

Die nicht versunkenen Städte, die auftauchenden
Die Weite: jetzt des Weges, das Feuer
Die Schlacke, und die Flüsse.

nach 1975

aus: Richard Leising: Gebrochen deutsch. Gedichte. Langewiesche-Brandt, Ebenhausen 1990

 

Konnotation

In der „Sächsischen Dichterschule“ hat man dem Poeten Richard Leising (1934–1997) große Verehrung entgegengebracht – trotz des Zuspruchs prominenter Kollegen blieb er aber zeitlebens in Ost und West ein Unbekannter, veröffentlichte in vierzig Jahren gerade mal zwei schmale Gedichtbände. Schließlich zog er sich als „Diogenes im zerfallenen Gehäuse“ ins Schweigen zurück, als er erkannte, dass es für ein authentisches Sprechen im SED-Staat keinen Ort mehr gab.
Leisings „Grundtrauer“ wird in diesem Gedicht manifest, das nur von Landschaften, der Küste, der See und den Flüssen zu sprechen scheint, aber in Wahrheit eine Standortbestimmung des fast verstummten Dichters enthält. Da ihm die „Weite“ vorenthalten wird, zieht sich das Ich ins Land zurück, um sich dort in „Versuchen“ auszuprobieren. Im Zentrum des Gedichts steht die verstörende Erfahrung des Dichters, in eine existenzielle Stummheit geraten zu sein.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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