ROBERT GERNHARDT
Die Nachbarin
Die Nachbarin, die hüstelnd die Treppe fegt.
„So anstrengend heute.
Weiß auch nicht,
was ich habe.“
Krebs hat sie, die Nachbarin.
In einem Jahr wird sie tot sein.
Eine Erinnerung, die nicht vergehen will:
„So anstrengend heute.
Weiß auch nicht,
was ich habe.“
Krebs hatte sie, die Nachbarin.
Seit fünfzehn Jahren ist sie tot.
1996
aus: Robert Gernhardt: Lichte Gedichte, Haffmans Verlag, Zürich 1997
„Kunst das meint vor allen Dingen / anderen Menschen Freude bringen / … Kunst ist heiter und sonst gar nichts weiter.“ Mit dieser Maxime des Dichters und Zeichners Robert Gernhardt (1937–2006) kann man den kurzen lyrischen Bericht über „die Nachbarin“ kaum in Verbindung bringen. Aber der virtuose Humorist Gernhardt hatte immer schon ein Faible für die schwarzen Seiten der menschlichen Existenz.
1996, nach einem überstandenen Herzinfarkt und nachfolgender Bypass-Operation, verfasste Gernhardt einen Zyklus von 100 Gedichten mit dem Titel „Herz in Not“, in dessen Umfeld auch das Gedicht über die Nachbarin entstand. Seine von schwarzhumorigem Ingrimm getragenen Auseinandersetzungen mit dem Tod setzte er 2004 fort mit einem Zyklus über den neuen Feind, der seinen Körper befallen hatte: den Krebs. Auch bei so ernsten Themen hat sich Gernhardt nie von der Komik abgewandt.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006
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