ROBERT SCHINDEL
Anderwärts und unterwegs
Anderwärts und unterwegs
Daheim ein heimliches Zuhaus
Ich nehm es hin aber ich legs
Zum Trocknen auf die Böschung raus
Die mit Gebüsch und Disteln abgesaftet
In jenen alten Schatten grundelt
Ich selbst dem Anderwärts verhaftet
Hör Pfiffe und ein Schäfer hundelt
Was ist denn los mir geht es gut
Auch wenn in Bosnien am Kochen
Die Suppe aus Geknoch und Blut
Die ganzen Toten haben nicht so gut gerochen
Die Nacht und Jahr in meinen Schlaf gekrochen
Tagsüber geh ich lächelnd unter meiner Hut
1997/98
aus: Robert Schindel: Immernie. Gedichte vom Moos der Neunzigerhöhlen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2000
Ein Bedürfnis nach Idylle stößt hier mit den harten Faktizitäten der Zeitgeschichte zusammen: Das Ich, das sich bei aller Unstetigkeit des Nomadisierens und der Praxis des „Anderwärts“-Seins durchaus nach einem „Zuhaus“ sehnt, wird mit den kriegerischen Schrecken der Gegenwart konfrontiert. Im kunstreichen Reflektieren dieser unaufhebbaren Ambivalenzen ist hier dem zum störrischen Wort-Eigensinn tendierenden Lyriker Robert Schindel (geb. 1944) ein spannungsreiches Sonett gelungen.
Die Ich-Figuren des österreichischen Juden Schindel sind Unbehauste, die immer in der Diaspora leben, in einem Zuhausesein ohne Territorium, einem Österreich ohne Land. Von Zerrissenheit und dem Nicht-zur-Ruhe-Kommen spricht ja schon das Oxymoron im Titel des Gedichtbuchs Immernie. Die „Pfiffe“ zerstören hier die Schäfer-Szene, das Wohlbehagen wird ausgehebelt durch die tägliche Begegnung mit dem Mörderischen, der „Suppe aus Geknoch und Blut“.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008
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