Robert Schindels Gedicht „Kleiner Versuch Todesorgel“

ROBERT SCHINDEL

Kleiner Versuch Todesorgel

Man könnte auch sagen
Schluck auf Schluck ist nicht Schluck auf Schluck
Schluck ist für sich, Schluck ist für sich

Man könnte auch sagen
Antwort auf Frage ist nicht Antwort auf Frage
Antwort ist für sich, Frage ist für sich

Man könnte auch sagen
Leben zum Tod ist nicht Leben zum Tod
Leben ist für sich Tod ist für sich

Man könnte auch sagen
Man könnte auch sagen ist nicht man könnte auch sagen
Man könnte ist für sich, auch sagen ist für sich

Schluck auf Schluck
Antwort auf Frage
Leben zum Tod
Man könnte auch sagen

1990er Jahre

aus: Robert Schindel: Immernie. Suhrkamp Verlag. Frankfurt a.M. 2000

 

Konnotation

Deine Texte werden immer jüdischer“, lässt der Wiener Dichter Robert Schindel (geb. 1944) namenlose „Leute“ in seinem Gedicht „Vom Indirekten II“ sagen. Und tatsächlich gilt dieser ironisch gemeinte Hinweis in besonderer Weise für sein Gedicht über die „Todesorgel“, das im Titel wie auch in der stilistischen Figur der litaneiartigen Wiederholung auf Paul Celans (1920–1970) berühmte „Todesfuge“ (1945) zurückgreift. Schindels artifizielles Konstrukt basiert einzig auf sprachimmanenter Reflexion – und lässt jeden direkten Bezug auf den Holocaust weg.
Das Gedicht demonstriert die Möglichkeiten zur manipulativen Instrumentalisierung von Sprache und Geschichte durch Sprachreflexionen, die ins Absurde getrieben werden. Schindel zitiert nur die Techniken, die alles sprachliche und geschichtliche Geschehen unter einen sprachskeptischen Vorbehalt stellen. Damit zeigt das Gedicht implizit auch die Strategien, derer sich die Relativierer des Völkermords und überhaupt politischer Verbrechen vorzugsweise bedienen: der Zerreißung und Leugnung der Zusammenhänge.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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