ROBERT WALSER
Schnee
Es schneit, es schneit, bedeckt die Erde
mit weißer Beschwerde, so weit, so weit.
Es taumelt so weh hinunter vom Himmel
das Flockengewimmel, der Schnee, der Schnee.
Das gibt dir, ach, eine Ruh’, eine Weite,
die weißverschneite Welt macht mich schwach.
So daß erst klein, dann groß mein Sehnen
sich drängt zu Tränen in mich hinein.
1900
aus: Robert Walser: Sämtliche Werke. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1986
Für den Beobachter dieser Winterszene gibt es nur einen Sehnsuchtsort: Es ist die vollkommen eingeschneite Welt, die unendliche Weite und Weiße der schneebedeckten Erde Das Schneetreiben, das zunächst als „weiße Beschwerde“ daherkommt, öffnet die Sinne des Ich, weitet die Seele. Im Werk des Schweizer „Prosastückli“-Meisters Robert Walser (1878–1956) scheint der Schnee ein Synonym zu sein für Existenz.
Von Beginn stellt Walser drei Motive ins Zentrum seines Schreibens: das Gehen – die ständige Aufbruchsbewegung war das Lebensprinzip des Nichtsesshaften –, das Schreiben und den Schnee. Das beginnt mit den frühen Versen aus dem Band Gedichte (1909) und setzt sich fort bis in seine dritte lyrische Periode, Mitte der 1920er Jahre in Bern, die erst mit Walsers Verbringung in die Heil- und Pflegeanstalt Herisau im Juni 1933 endete. Das Gedicht „Schnee“ erschien erstmals im Juni 1900 in der Münchner Zeitschrift Die Insel. Der Dichter selbst starb im Dezember 1956 bei einem Spaziergang im Schnee.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007
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