Rolf Dieter Brinkmanns Gedicht „Gedichte schreiben“

ROLF DIETER BRINKMANN

Gedichte schreiben

O, die alltäglichen Dinge
die alltäglichen Dinge

der Postbote                   als poetisches
frühmorgens                  Bild

wirft Rechnungen        und nutzt die Schuhsohlen ab
und Drucksachen         und schleppt an der Tasche –

Briefe und                      er würde
Postkarten                     viel lieber

ins Haus –                    den Garten umgraben
er glaubt nicht             ein paar Beete anlegen

an Gedichte                  ein Bier trinken
und Stilleben               im Schatten dann liegen

an Regen                      die Briefe vergessen
und Schnee                  die Türen vergessen

aaaaaaaaaaaaaaaa aaund alle die Dinge
aaaaaaaaaaaaaaaa aaund alle die Dinge.

1963/64

aus: Rolf Dieter Brinkmann: Standphotos. Gedichte 1962–1970. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 1980

 

Konnotation

Eine Absicht bei mir war von Anfang an da“, so bekannte der rebellische Poet Rolf Dieter Brinkmann (1940–1975) in einem Brief, „nämlich gegen den Begriff Gedicht mit meinen Gedichten zu schreiben,… also gegen Gedichte als elitäre Kunstprodukte,… und dann gegen die Bedeutungen der Dinge im menschl. Bewußtseinsraum, also die starren Fixierungen aufzulösen mit einem Gedicht.“ Mit dieser Entzauberung von Lyrik als Kunst war auch die emphatische Hinwendung zu den „alltäglichen Dingen“ verbunden.
Das „Gedichte schreiben“ wird in diesem 1963/64 entstandenen Text zur profanen Nebensache erklärt. Stattdessen werden in hymnischem Ton die alltäglichen Beschäftigungen eines Briefträgers ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Die „alltäglichen Dinge“, so Brinkmann in einer poetologischen Notiz, „werden aus ihrem muffigen Kontext herausgenommen… und plötzlich sehen wir, wie schön sie sind.“

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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