ROLF DIETER BRINKMANN
Selbstbildnis im Supermarkt
In einer
großen
Fensterscheibe des Super-
markts komme ich mir selbst
entgegen, wie ich bin.
Der Schlag, der trifft, ist
nicht der erwartete Schlag
aber der Schlag trifft mich
trotzdem. Und ich geh weiter
bis ich vor einer kahlen
Wand steh und nicht weiter
weiß.
Dort holt mich später dann
sicher jemand
ab.
1967
aus: Rolf Dieter Brinkmann: Standphotos. Gedichte. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1980
Gegen die dominanten „Blindbegriffe“ der öffentlichen Rede setzte der poetische Anarchist Rolf Dieter Brinkmann (1940–1975) seine Poetik des alltäglichen „snapshots“, die auf die Erkenntnisleistung der „sinnlichen Erfahrung“ vertraute. In einigen fotografisch inspirierten Gedichten der 1960er Jahre verwischt Brinkmann die Grenze zwischen Wirklichkeit und Unwirklichkeit, zwischen der sinnlichen Gewissheit und dem Imaginären.
Das Leben, für Brinkmann ein „komplexer Bildzusammenhang“, erweist sich, wie es in einem anderen Gedicht heißt, als unwirklicher „image-track“. Die große Fensterscheibe des Supermarkts bildet hier für das Ich einen monströsen Spiegel, in dem die Kontur der eigenen Identität fassbar zu werden scheint. Doch beim Überschreiten der Grenze zwischen Bild und empirischer Wirklichkeit erleidet das Subjekt einen Schock. Man erfährt nicht, in welche Bereiche das Ich nun vorstößt. Das Bewusstsein ist in einen anderen Zustand geraten – in labyrinthische Zonen, in denen das Subjekt „nicht weiter weiß“. Die Aussicht, dort „abgeholt“ zu werden, ist nur als ironische Pointe zu verstehen.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009
Schreibe einen Kommentar