Rolf Haufs’ Gedicht „Mit meiner Unruhe“

ROLF HAUFS

Mit meiner Unruhe

Es war ein schöner Nachmittag (im Juni) vor einem
Bahnhof in der Nähe eines Flusses, der nach
Vanille roch. Leute standen da herum.
Rauchten. Lasen. Redeten. Taten also
Ungeheuer viel. Ich störte sie
Mit meiner Unruhe. Ich ging durch sie hindurch und
Zerschnitt ihre Kleider. Sie aber
Blieben ruhig, so daß ich mich fragte
Was muß ihnen zugestoßen sein an diesem
Wirklich schönen Nachmittag (im Juni).

1975/76

aus: Rolf Haufs: Aufgehobene Briefe. Hanser Literaturverlag, München 2001

 

Konnotation

Die Idylle in diesem Gedicht ist – wenigstens aus der Perspektive des lyrischen Ichs – trügerisch. Solche trügerischen Idyllen sind eine Spezialität des 1935 in Düsseldorf geborenen Lyrikers Rolf Haufs, der zu den Stillen im Lande zählt. Still meint hier die Fähigkeit, äußerst präzise hinzuschauen und noch dem unauffälligsten Gegenstand seiner Beobachtung ein irritierendes Moment abzugewinnen. Was geschieht hier eigentlich auf dem Bahnhofsvorplatz, in der Nähe des Flusses, „der nach Vanille roch“?
Wir haben es mit einem unruhigen Ich zu tun, das sich deutlich abhebt von der Ruhe der anderen Leute, die so Alltägliches tun wie rauchen, lesen, reden. Etwas Melancholisches gar eine latente Agressivität geht von diesem lyrischen Subjekt aus, das die Ruhe der Anderen als gegen sich selbst gerichtet zu empfinden scheint. Ein Riss geht durch den äußerst reizbaren Protagonisten, er grenzt sich ab und der schöne Nachmittag wird zu einer Bedrohung.

Volker Sielaff (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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