ROR WOLF
hartmanns hinterzimmer
die suppe kalt in hartmanns hinterzimmer.
wir saßen da und wurden ziemlich alt,
und nicht viel später wurden wir noch älter,
und wir vergaßen viel, die suppe kälter,
in hartmanns hinterzimmer, wo wir saßen
und fast die ganze weite welt vergaßen:
die luft, die weichen wolken und den wald
und hartmanns hinterzimmer, was auch immer.
1970er Jahre
aus: Ror Wolf: Im Zustand vergrößerter Ruhe. Die Gedichte. Hrsg. von Friedmar Apel. Schöffling & Co. Verlagsbuchhandlung, Frankfurt a.M. 1996, 2007, 2009
Zu den unspektakulären Antihelden, die das Werk des vielseitigen Surrealisten und Komikers Ror Wolf (geb. 1932) bevölkern, gehört der eigenschaftslose Herr Hartmann, in dessen „Hinterzimmer“ das Treiben der Welt stattfindet. In seinem hinreißend skurrilen Gedicht kokettiert Wolf mit der Verweigerung einer Geschichte und eines aufregenden Spannungsbogens und begnügt sich mit dem Hinweis auf Selbstverständliches. Die anonymen Akteure in „hartmanns hinterzimmer“ werden älter, bis schließlich die Welt aus den Fugen gerät.
Ein Lieblingsmotiv Ror Wolfs ist der Einsturz der gewohnten Ordnung – und mit ihr das Auseinanderbrechen aller Weltbezüge, das Fallen und Stürzen der Figuren, die den Boden unter den Füßen weggezogen bekommen. In „hartmanns hinterzimmer“ ist es das große Vergessen, das der namenlosen Gemeinschaft mit ihrem großem Sitzfleisch widerfährt. Alles wird „älter“ und „kälter“ – und am Ende ist die „ganze weite Welt“ verschwunden.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010
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