RÓŽA DOMAŠCYNA
Als ich klein war
waren die schlüssellöcher groß
sang ich arien aus dem effeff
baute dämme und eine ganze stadt
fuhr mit dem zug auf dem äquator
überquerte mit dem papierschiff den Nil
und rollte die sonne auf der hohlen hand
1990er Jahre
aus: Róža Domašcyna: Zwischen gangbein und springbein, Janus Press, Berlin 1995
Als Angehörige des kleinen westslawischen Volks der Sorben (= Wenden) ist die Dichterin Róža Domašcyna (geb. 1951) in einem multilingualen Territorium aufgewachsen. Diesen poetischen „Gedächtnisraum“ ihrer sorbischen Heimat, in dem sich zahlreiche „Muttersprachen“ und Dialekte begegnen, hat die Autorin als „Landstreicherin über Traditions- und Sprechgrenzen hinweg“ (so ihr Verleger Gerhard Wolf) lyrisch erkundet.
Die schöne lyrische Kindheits-Miniatur aus den 1990er Jahren hält den Augenblick fest, da die Welt noch offen steht und in Träumen erobert werden kann. Dem Kind verschieben sich die Dimensionen der Dinge ins Riesenhafte, und den Möglichkeiten der Weltaneignung sind keine Grenzen gesetzt. Es ist dieser euphorische Aktivismus der Wunschphantasie, der dem erwachsenen Menschen meist verlorengeht. Die Poesie indes beharrt auf diesem Vorrecht zu träumen – das Domestizieren der Wünsche übernehmen dann die Agenten der instrumentellen Vernunft.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009
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